108 Sonnengrüße

Ich glaube, auch Nicht-Yogis sind die Sonnengrüße ein Begriff. Nein, es handelt sich nicht um leichtes Winken mit der Hand, sondern um eine Abfolge von Bewegungen, die mit der Ein- und Ausatmung einhergehen und den Körper optimal auf yogische Betriebstemperatur bringen. In der von mir bevorzugten Ashtanga-Praxis sind die Sonnengrüße vielleicht noch ein bisschen dynamischer als in anderen, ruhigeren Yogaarten. In meinem Yogaunterricht muss ich immer wieder erkennen, dass einige Praktizierende im tiefen Liegestütz und im abschauenden Hund an ihre Grenzen kommen, wenn Rumpf- und Armmuskulatur bzw. die Handgelenke zu schwach sind.

Sonnengrüße sind im Yoga einfach essentiell!

Sonnengrüße können routinemäßig abgespult oder wunderschön zelebriert werden. Im Grundkurs wird die Abfolge gerne seziert und schlussendlich wieder zum großen Ganzen zusammengesetzt.

Und dann gibt es die Besonderheit der „108 Sonnengrüße“, die gerne dann praktiziert wird, wenn ein Energiewechsel stattfindet, zum Beispiel zum Jahresanfang oder zur Sommersonnenwende!

Warum gerade 108? Ich habe dazu ein bisschen recherchiert, zumal in dem „Workshop“, den ich vor kurzem besucht habe, darüber leider kein einziges Wort gefallen ist:

• Die Zahl 108 gilt im Yoga, sowie in verschiedenen Traditionen auf der ganzen Welt, als heilig, ist eine glücksverheißende und eine bedeutende spirituelle Zahl.
• Sie repräsentiert die Gesamtheit der Existenz.
• Die Zahl 108 ist eine kosmische Ordnungszahl, die sich wie folgt zusammensetzt:
o 12 – die Anzahl der Monate im Jahr
o 3 x 12 = 36 – die 3 steht für die 3 Dimensionen in unserem Leben
o 3 x 36 = 108 – diese 3 steht für Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft
o Die Zahl 9: die Zahl der Weisheit – sie steht für die höchste Vollendung: 1 + 0 + 8 = 9
o Jedes ganze Teilergebnis der Zahl 108 ergibt addiert die Zahl 9 (108 / 3 = 36 → 3 + 6 = 9).

• 1, 0 und 8: Einige sagen, dass die „1“ für Gott bzw. die höhere Wahrheit steht, „0“ für Leere und Vollständigkeit in der spirituellen Praxis und „8“ für Unendlichkeit und Ewigkeit.
• Insgesamt laufen 108 Energielinien im Körper zusammen, um das Herz-Chakra zu bilden.
• Im Ayurveda werden 108 Druckpunkte beschrieben.
• In der Astrologie gibt es 12 Tierkreiszeichen und 9 Planeten. 12 x 9 = 108.
• … und noch viele andere Auslegungen!

Mit diesem Google-Wissen im Kopf und großer Erwartung in den Fingerspitzen machte ich mich also in aller Früh auf den Weg in ein mir unbekanntes Yogastudio irgendwo im 8. Bezirk, nahe am stark befahrenen Gürtel. Leider hatten sich nur vier Yoginae für den 2-Stunden-Workshop angemeldet. Tatsächlich waren wir dann nur zu dritt.

Der Yoga-Raum im Erdgeschoss, zwei Straßenfronten, große Kälte-abstrahlende Glasfronten, …

nur ein (sichtbarer) Heizkörper!

Ich friere selten, aber da musste ich mir doch schnell meine löchrigen Socken und meinen Kuschel-Schal aus der Garderobe holen!

Unsere Yoga-Lehrerin – freundlich-aufgedreht – startete mit einer kurzen Herz-Meditation (weil das Workshop-Datum nahe am Valentinstag war) und einer kleinen Atemübung.

Und mir wurde immer kälter!

Nur eine knapp gehaltene Anleitung, dass die Sonnengrüße in einer steten Aneinanderreihung ohne Pause, einer Perlenschnur gleich, durchgeführt werden. Eine Yogina entschied sich für die Intervall-Variante, sprich im Wechsel 10 Sonnengrüße mitmachen bzw. 10 Sonnengrüße aussetzen.

Für mich kein Thema – bin ich doch extra hergekommen, um zu spüren und zu erfahren, wie sich 108 Sonnengrüße anfühlen!

Völlig unerwartet aber und daher äußerst befremdlich für mich – und auch die beiden anderen – war aber die Geschwindigkeit, die uns die Yoga-Lehrerin vorgab! Nichts mit gleichmäßigem Ein- und Ausatmen, von einem regelmäßigen Yoga-Rhythmus keine Rede! Mein Puls fing alsbald zu galoppieren an. In meiner Nase sammelte sich Schleim und ich konnte nur mehr durch den Mund atmen.

108 Sonnengrüße – Meditation in Bewegung! Aber dieses Tempo? Ich hatte ein bisschen das Gefühl, gehetzt und getrieben zu werden. Vielleicht sind 108 Sonnengrüße mehr als Yoga-Workout denn als Yoga-Inspiration zu sehen?

Bei den ersten 10 Sonnengrüßen dachte ich: Das wird eine langwierige Angelegenheit.

Nach den ersten 40 Sonnengrüßen wurde mir endlich warm.

Nach 60 Sonnengrüßen tropfte dann endlich der Schweiß von der Stirn.

Und bald schon hieß es: „Die letzten 8!“

108 Sonnengrüße – und keine Zeit, schweren Gedanken nachzuhängen. Leichte Gedankenblitze drehten sich eigentlich nur um die Frage, mit welchem Bein ich zurück- bzw. wieder nach vorne steigen sollte, um hier nicht zu einseitig zu werden. Ans Mitzählen musste ich zum Glück keinen einzigen Gedanken verlieren – diesen Part erledigte die Yoga-Lehrerin mit Hilfe kleiner Steinen aus Bali.

108 Sonnengrüße – ich bin zwar um eine intensive Erfahrung reicher, aber von den zuvor zugrundeliegenden Attributen, wie glücksverheißend, spirituell, kosmisch etc. etc. war leider gar nichts zu spüren, da dem Workshop eindeutig die entsprechende Inszenierung gefehlt hat.

Die nächste „Chance“ auf 108 inspirierende Grüße an die Sonne bietet sich im Juni zur Sommersonnenwende … mir schweben da schon eigene Ideen im Kopf herum …