Wenn man vom eigenen Gewissen gebissen wird, dann fühlt es sich vielleicht ein wenig so an, als ob man von einem Knabberfisch (Saugbarbe) ein Horthaut-Peeling bekommen würde – es kitzelt, es juckt vielleicht sogar, es ist ein wenig unangenehm, tut aber nicht weh.
Dann gibt es aber auch Gewissensbisse, die sich bis tief ins Fleisch verzahnen, eine große Wunde und weit mehr als etwas Unbehagen verursachen.
Momentan befinde ich mich irgendwie zwischendrin, so als ob sich der an sich zahnlose Knabberfisch mit mal eine Haifisch-Zahnprothese übergestülpt hätte und sich jetzt durch meine Hornhaut bis zum Knochen durchzubeißen versucht.
Was ist passiert, dass ich von solch brutal-blutigen Gedanken geplagt werde? Ist mein zweites Ich mittlerweile so von meiner anregenden Krimi-Thriller-Lektüre durchseucht (welch aktuelle Wortwahl!!!)?
Nein, der Trigger für die Bisswunde war ein eigentlich ganz alltäglicher Vorfall heute Morgen noch vor 7:00 Uhr, als ich in der S-Bahn-Station auf den Zug wartete, um zu meiner Yoga-Vertretung zu düsen (… es hat sich in den letzten Tagen leider gezeigt, dass auch Yogalehrer:innen nicht viren-immun sind ☹ – in den letzten zwei, drei Wochen hatte ich so viele Yoga-Vertretungen wie nie zuvor!). Als ich jedenfalls da so stand – 3 Minuten bis zum Eintreffen des Zuges -, hörte ich am anderen Ende des Bahnsteigs eine Stimme: „Haben Sie eine Zigarette für mich?“, „Haben Sie etwas Kleingeld für mich?“ … also eine arme Haut auf frühmorgendlichem Bettelzug. Ich bin bei Schnorrereien immer im Wiggel-Waggel … soll ich was geben oder nicht? Habe ich überhaupt Kleingeld dabei? Denn seitdem überall, selbst in der Bäckerei, mehr und mehr kontaktlos bezahlt wird, damit das „Eh-schon-wissen“ sich nicht über Münzen und Scheine überträgt, ist mein Geldbörserl sehr leicht und recht dünn – nicht mal für den Klingelbeutel reicht es mehr! Parallel die Zeitrechnung im Kopf: wer ist schneller – mein Zug oder der Bettler? Für den Fall der Fälle – und weil mein Gewissen heute Morgen schon mit den Zähnen fletschte -, schaute ich im Geldbörsel nach und siehe da: ein ganzer Euro inmitten von ein paar Ein-Cent-Münzen! Als aber ein paar Polizisten am Bahnsteig erschienen und die Stimme abrupt nicht mehr zu hören war, dachte ich, dass der Bettler das Weite gesucht hätte – und steckte den Euro wieder ein. Noch zwei Minuten … noch eine Minute bis zur Ankunft des Zuges – plötzlich war die Stimme wieder da und kam immer näher. Und als der Zug dann einfuhr, hatte mich die Stimme doch noch erwischt. Grundsätzlich hätte ich es schon geschafft, den Euro wieder hervorzuholen und trotzdem rechtzeitig in den Zug steigen zu können (und wenn: im Morgenintervall kommen Züge alle drei Minuten!), doch der Bettler / Obdachlose wurde dann – just bei mir!!! – unverschämt – vom wahrscheinlich auswendig gelernten Bettelspruch-Drehbuch bis hin zu: „Kann ich mit Ihnen mitfahren?“, kam er mir, im physischen, wie auch übertragenen Sinne, einfach viel zu nahe! Meine körperliche und verbale Reaktion war, ohne dass ich es hätte kontrollieren können, von tiefer Ablehnung, Abwehr und einem einzigen Gedanken gezeichnet – nur schnell weg! Doch kaum fuhr der Zug los, war er da, der scharfe und unerbittliche Biss des Gewissens!
Gleichzeitig aber spulten sich vor meinem inneren Auge erlebte Kleinfilme ab, Erinnerungen an andere Begegnungen mit der Bettelei:
Szene 1 – Naschmarkt in Wien, vor allem morgens orientalisch-regional angehauchtes Obst- und Gemüse-Paradies, ab Mittag dann auch Gusto-Meile für Hungrige und Durstige. Als die „Welt noch in Ordnung war“, war auch ich mal dort an einem lauen Sommerabend, um ein bisschen dolce far niente zu genießen. Doch permanent wurden wir von Kindern und alten Frauen angebettelt – auch hier das deutliche körperliche Überschreiten der persönlichen Privatsphäre. Klar, dass einem die Kleinsten und die Ältesten leidtun – aber das hört sich ganz schnell auf, wenn man die Oma in der „Arbeitspause“ in einer etwas abgeschiedenen Ecke mit einem gut-neuen I-Phone in der Hand entdeckt!
Szene 2 – Innenstadt in Wien, morgens auf dem Weg in die Arbeit, an der Ecke eine nicht mehr ganz junge Frau, zwar ordentlich und sauber gekleidet, aber stumm und still ihre Hand aufhaltend – da war ich froh, dass ich eine Zwei-Euro-Münze in der Tasche hatte!
Szene 3 – vor dem Supermarkt ein alter Mann in zerrissener Kleidung, sich mit einer Hand am Stock aufstützend, in der anderen Hand den klassischen zerknautschten Coffee-to-Go-Becher. Ich dachte mir: Geld gebe ich dir keines, denn ich bin mir sicher, dass dein „Chef“ irgendwo in der Nähe in einer Nische steht und jedes Geldstück, das im Becher landet, mit Argusaugen beobachtet. Aber ich bringe dir persönlich etwas zu essen und zu trinken aus dem Supermarkt mit. Als ich mit einer Flasche Mineralwasser und einem gesunden Sandwich wieder auf der Straße stehe, steht der alte Mann mit dem Gesicht abgewendet ganz dicht an der Hauswand. Ist ihm schlecht oder gar schwindlig? Als er auf mein mehrmaliges „Hallo?“ nicht reagiert, trete ich etwas näher – und muss erkennen, dass er gerade in ein anregendes Telefonat vertieft ist … Bettelei und Handybesitz? Das geht so gar nicht! Ich habe ihm (ohne dass er es mitbekommen hätte, so vertieft war) zwar Speis und Trank einfach dagelassen, habe mir aber innerlich versprochen, dass ich mich von diesem „System“ in Zukunft nicht mehr einlullen lasse!
Szene 4, Szene 5, … es gibt da sicherlich noch einige mehr, die gewisse Ähnlichkeiten und Parallelen zu Szene 1 und Szene 3 aufweisen.
Wenn ich mich allerdings an Szene 2 erinnere – da schäme ich mich, dass ich nur die zwei Euro hergegeben habe … ich habe die Frau nie mehr wiedergesehen!
Der Bettler / Obdachlose von heute Morgen führt sicher ein besch…. Leben, aber sein Eindringen in meinen Komfortzone-Kokon war mir einfach too much!
Armut hat leider viele Gesichter. Die vielen Spendenbriefe, die mit der Post geschickt werden, nerven zuweilen ganz gehörig – schon wieder ein Kugelschreiber, schon wieder Glückwunschkarten! –, doch fällt es mir hier leichter, auch mal „mehr“ herzugeben, weil hinter dem Spendensammeln — hoffentlich! — seriöse Institutionen stecken und weil eine Online-Überweisung automatisch eine gewisse Distanz schafft.
Und: das scharfe Haifischgebiss kann sich wieder zu zahnlosen Lippen zurück verwandeln und die Hornhaut verwöhnen …
… bis zur nächsten persönlichen Konfrontation!