Normalität in der Schwebe

Stück für Stück werden wir wieder in die Normalität zurückgelassen – in die „neue Normalität“, wie es so schön heißt bzw. in eine Normalität, die dennoch weiterhin in der Schwebe balanciert so wie ich, wenn ich im standing split – mit beiden Händen am Knöcheln, den Blick zum Boden gerichtet, auf einem Bein stehend – versuche, eine möglichst gute Figur zu machen und nicht umzukippen.
Seit heute dürfen alle Kinder wieder in ihre Schulen zurückkehren, seit heute fahren alle Öffis wieder in ihren normalen Intervallen, die Parksheriffs dürfen bereits seit einigen Tagen wieder Liebesbriefe an die Windschutzscheibe heften. Seit Anfang Mai dürfen wir wieder Kontakt-mit-Abstand mit Familie und Freunden aufnehmen. Und in Deutschland wird seit Samstag wieder Bundesliga gespielt – allerdings neu als Geisterfußball ohne Spuckerei und ohne Liebkosungen beim gelungenen Treffer ins gegnerische Tor. Wir können wieder analog shoppen gehen – es stellt sich hierbei für mich aber die Frage, ob ich fürs homeoffice tatsächlich neue Klamotten brauche?

Und dann ein, zwei Lockerungen mit geschichtsträchtig-untermauerter Bedeutung. Am 15. Mai vor 65 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet. Am 15. Mai in diesem Covid-19-Jahr konnten die Gastronomen bei eiskaltem Anti-Schanigarten-Wetter endlich wieder ihre Lokale öffnen. Seit diesem Tag dürfen auch wieder Gottesdienste abgehalten werden. Aber alles in allem weit entfernt von dem, was wir als „normal“ bezeichnen würden! Viel mehr die Wahrnehmung des „Besonderen“ und nicht mehr so „Selbstverständlichen“!

Wir waren am Samstag in der Wachau und sind rund um Dürnstein bei einem teilweise recht abenteuerlichen Rundwanderweg ordentlich ins Schwitzen gekommen. Welch glückliche Fügung, dass wir auf dem Rückweg zum Auto bei einem Weinbauern / Heurigen vorbeikamen! Alle Bänke in lockerer Besetzung, kein Gast mit MNS, nur das Personal mit dem Schutz vor Nase und Mund. Für uns ein freies Bankerl an der sonnenbeschienenen Hausmauer – und soll ich was sagen? Auch wenn daheim das Gläschen Prosecco auf der Terrasse mundet: ein „fremd-servierter“ frischer großer Sommerspritzer, dazu ein üppig belegtes Käsebrot: das hat schon was für sich! Wir wussten diese neue Selbstverständlichkeit sehr zu schätzen!

Und dann der erste Live-Gottesdienst seit dem Beginn der Fastenzeit! Mir kam die Aufgabe zu, die Gläubigen vor dem Betreten der kleinen Kirche in unserer Nachbarschaft nach ihrer Anmeldung für die Messe zu befragen, da bezogen auf die Fläche des Kirchenraums leider nur eine begrenzte Anzahl an Personen gleichzeitig anwesend sein darf. Unser Pfarrvikar meinte dann in der Messe, dass dies „früher einmal“ sogar ein richtiger Kirchenjob gewesen ist (leider habe ich die Bezeichnung nicht behalten). Was spürbar war: zum einen – insbesondere für die älteren Menschen – die große Erleichterung, das Ritual des Kirchgangs wieder aufnehmen zu können – und damit auch den Kontakt mit Bekannten aus der Kirchengemeinde pflegen zu können; zum anderen aber auch große Verunsicherung: „Muss ich mich jetzt jedes Mal vorher anmelden, wenn ich die Sonntagsmesse besuchen möchte?“ Auch der Ablauf des Gottesdienstes reduziert – weniger Gesang, nur eine Lesung, die Predigt kürzer, am Altar mehr Selfservice als Ministranten-Unterstützung. Aber auch hier: Balsam für die Seele!

Zwei kleine Beispiele, die bewusst machen sollen, wie wichtig es ist, das, was in der ante-corona-Zeit (a.c.) als so alltäglich-selbstverständlich hingenommen wurde, jetzt in der inter-corona-Zeit (i.c.) als nicht alltägliches Geschenk anzusehen!

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