Oh Tannenbaum

Oh Tannenbaum! Was passiert nur mit Dir?

Ahnungslos wächst und gedeihst du im Wald unter Vielen. Um die Wette mit den Anderen schießt du Jahr für Jahr in die Höhe. Du wirst grün und grüner. Deine Nadeln sind perfekt geformt und schmiegen sich aneinander.

Doch dann, eines Herbstes, kommt die Axt – ein, zwei schlagkräftige Hiebe, und erstmals siehst Du den Waldboden aus der Ameisen-Perspektive.

Du wirst in ein maschenartiges Korsett gezwängt und ziemlich unsanft auf ein Dir unbekanntes Gefährt geworfen, wo du über, unter und neben anderen Opfern liegst, alle mit der spitzen Nase gegen den kalten Fahrtwind.

Dann die nächste Verwirrung! Du wirst wieder unsanft gepackt und von der Horizontalen in die mehr oder weniger ausgerichtete Vertikale gehievt. Dein amputiertes Bein tut noch weh – wenn Du Glück hast, bekommst Du einen überkreuzten Schuh angezogen.

Und dann … passiert mal nichts, gar nichts.

Dann wirst du begutachtet wie eine Frucht am Naschmarkt oder ein Sklave in Ketten, rundherum laute Geräusche und schlechte Luft! Wo ist es nur, das ruhige, wohl riechende Zuhause im Wald?

Findet jemand Gefallen an Deiner Gestalt – oder zu späterer Stunde, weil alle anderen Leidensgenossen verschwunden sind und Du der letzte Deiner Art bist -, wirst Du wiederum gepackt, geschleppt oder gefahren.

Was kommt dann?

Plötzlich wird es warm, sehr warm und Du wirst vom Licht geblendet. Aber Du spürst, dass sich etwas verändert. Du bist nicht mehr einer unter Vielen, sondern Du bist auf einmal der „Eine“, der „Wunderschöne“, der „etwas ganz Besondere“, der „der Schönste überhaupt“ … Wärst Du nicht grün, würdest du jetzt erröten!

Du wirst offenbar an einen ganz besonderen Platz gebracht, wirst nun in einen bequemeren und hochwertigeren Schuh gesteckt und darfst Dich endlich wieder ganz ausstrecken und Dich ausbreiten.

Zarte Hände berühren dich und stecken Dir unbekannte, noch nie gesehene Dinge an die Äste – uih, ganz schön schwer – aber Du bist stark, Du Tannenbaum!

Es wird ruhiger dort, wo Du bist – es herrscht eine seltsame Stimmung, die Du nicht zuordnen kannst.

Dann ein helles Klingeln, gefolgt von trappelnden und fröhlichen Geräuschen. Unsichtbare Vögel beginnen zu trällern – bei manchen Tönen stellen sich Dir die Nadeln auf.

Es wird Dir noch wärmer, als die Wesen um Dich herum kleine senkrechte Äste zum Brennen bringen – da bekommst Du es zu Recht mit der Angst zu tun!

Und dann, dann stehst Du einfach da, tagelang, nächtelang. Die anfängliche Bewunderung schwindet allmählich. Du hast Durst und Dir ist immer noch so warm, zu warm! Du spürst, wie Dein Saft entweicht und Deine Kräfte schwinden.

Du sehnst Dich in Deinen Wald zurück!

Du spürst, dass das Ende nahe ist. Irgendwann kommen wieder die zarten Hände und befreien Dich von dem Zeug, das Deine schwachen Äste nicht mehr halten können.

Du spürst, wie sich mit jeder Bewegung die einst dunkelgrünen, nun nur mehr blassen Nadeln lösen. Noch ein letztes Mal wirst Du gepackt – mit mehr oder weniger Achtsamkeit.

Und Du hast verstanden, dass die sich zu Hauf lösenden Nadeln hier nicht im Waldboden verrotten und zurück zum Ursprung kommen werden, sondern nur eine Spur der Verwüstung verursachen.

Es gibt kein Happy End!

Du wirst ohne ein Dankeschön weggeschmissen – und triffst hier auf Deine Kameraden aus dem Wald, die offenbar das gleiche Schicksal erlitten haben wie Du, denn von der ursprünglichen Pracht ist nun nichts mehr zu erkennen!

Es bleibt noch ein wenig Zeit, über diese aufregende Zeit zu reflektieren und sich mit den anderen darüber auszutauschen. Es werden immer mehr von den Anderen – noch einmal bildet Ihr alle zusammen einen Wald – wenngleich einen ziemlich skurrilen! Es wird aber auch geflüstert, dass einige Kameraden in der Verborgenheit der Dunkelheit irgendwo hin verfrachtet wurden, wo sie nun einsam und verlassen vor sich hin weinen!

Und dann … dann kommt doch noch das Feuer, das große Feuer, das Dich in seinem Rachen verschlingt und Dich erlöst …

Oh Tannenbaum! Ich danke Dir für Dein Opfer – Du hast mir sehr gefallen!

Ich oder Du?

Schon eigenartig!

Da habe ich mir über die Jahre meine ganz persönliche sportliche Morgen-Routine angeeignet und dann gibt es Tage, die ohne besondere Vorwarnung ganz anders starten als geplant (?!?!)

Es beginnt ganz normal mit Aufwachen bzw. Aufgeweckt-Werden, Aufstehen, Klo-Gang, Wasser-Trinken, Zähne-Putzen, Laufgewand-Anziehen, Schlüssel-Einstecken, Musik-Berieselung-Einschalten – und dann … dann beißt er zu … der verweichlichte innere Schweinehund, der im Englischen übrigens „the inner bastard“ genannt wird – oh wie nett!

Aber der Biss, der Biss ist alles andere als nett! Ich komme quasi schon zu Fall, noch bevor ich den ersten (Lauf-)Schritt gemacht habe. Und das verstehe ich nicht (!?!?)

Nicht, dass ich dann einfach umdrehe und zerknickt die Stiege hinauftrotte, um mich in der Wohnung zu verkriechen und die Wunde zu lecken, nein, das mache ich natürlich nicht!

Ich ändere auf meiner Fitness-Uhr den Modus „Laufen Outdoor“ auf „Gehen Outdoor“, wähle eine Strecke, die eher in der Nähe liegt und spule meine 60 … 80 Minuten Morgentraining in einem flotten, aber doch kaum pulssteigernden Tempo ab – und erreiche auch so meine (ersten) 10.000 Schritte am Tag.

Die ersten Male, als mich der verweichlichte innere Schweinehund überrumpelt hat, war ich schon sehr verzweifelt und innerlich zerstört.

Mittlerweile habe ich es akzeptiert, dass der verweichlichte innere Schweinehund immer wieder – zum Glück aber nicht allzu oft – mein starkes inneres Ich zu einem kleinen Gerangel herausfordert … und manchmal auch gewinnt.

Ich oder Du? Oder doch wir beide?